Im uralten indischen Grundbuch der Architektur und der Skulptur, dem Shilpa-Prakasha, heisst es „Begierde ist die Wurzel des Universums. Aus Begierde sind die Lebewesen geboren.“ Also ohne Begierde kein Leben, keine Menschheit. Eva war sicher keine Inderin und ihr Adam hoffentlich nicht allzu prüde, aber die christliche Literatur ist von fast allen Anspielungen sexueller Lebensfreue befreit. In Indien wird im Hochmittelalter diese Lebensfreue dank unzähliger erotischer Bilder an den offen zugänglichen Tempeln gezeigt, wird den Göttern eine unendliche Begierde bescheinigt. Das Fabelwesen, welches die Mithunas, die göttlichen Liebespaare und die himmlischen Nymphen einrahmt, verkörpert die ungebändigte Lust, welche nicht zu bändigen ist, eine Lust, welche den Fortbestand der Menschheit gewährleistet.
Ferner besagt das oben zitierte Buch Shilpa-Prakasha, dass „ohne die Darstellung von Mithunas ein Kultbau wie eine Totenhöhle gemieden werden müsse“. Nun, darüber können sich die indischen Tempel nicht beklagen, an fast allen Hindu- und Jaintempeln sind diese Liebespaare in direktem Akt dargestellt, voller Lust fordern sie den Betrachter auf, den Lauf des Universums zu unterstützen.
Merkwürdiger und fremder noch sind dem verklemmten Besucher, zu denen heute auch die Inder zu rechnen sind, die Kopulationsdarstellungen zwischen Mensch und Tier und die geradezu lustvollen Orgien, welche in Kajuraho so deutlich wie sonst nirgends in der Weltkunst gezeigt werden. Mögen letztere modernen Menschen kein Greul mehr sein und nur verklemmtes Kichern erzeugen, ist die Darstellung eines Mannes, der offensichtlich ein Tier besteigt, in fast jeder Gesellschaft ein Kulturbruch. Man nehme sich einmal wieder den Film „Padre Padrone“ der Gebrüder Taviani vor, welche diesen Tabubruch für ein modern-europäisches Publikum publik machten.
In fast allen indischen Tempeln finden sich Stelen mit Kopulationsszenen zwischen einer Tempeldienerin oder Jungfrau und einem die Frau besteigenden Tier, sei es Eber, Hirsch oder Stier. In den Tempeln steht oft noch die Opfersäule, an denen diese Riten durchgeführt wurden. Verschämt blicken Inderinnen auf diese Szenen, kein Reiseführer wagt sich an Erklärungen. Aber ganz Indien verehrt den Lingam auf der Yoni. Trotz oder obwohl die prüden Engländer auch daran sicher enormen Anstoss genommen habe. Aber da ging es ihnen auf der Insel Delos sicher nicht besser, wo gewaltige Marmorphalli in den sonnigen Himmel von Helas ragen….