Überall ist in Indien Wunderland und hier werden wir schon am zweiten Tag der Reise von Wundern nur so erschlagen. Von Odihsas (ehemals Orissa) Hauptstadt Bubaneshwar sind wir aufgebrochen, einen der wichtigsten Vishnutempel des Landes aufzusuchen. Im 60 Kilometer südlich gelegenen Puri wird Vishnu in Form des Jagannath, des Herrn des Universums verehrt. Ein aus einem Baumstamm geschnitzter Kopf von zugegeben nicht gerade ästhetischem Aussehen ist zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester im Hauptheiligtum untergebracht, welches aber nur von Hindus besucht werden darf.
Uns reicht aber schon der Besuch der anderthalb Kilometer langen Pilgerstraße mit ihren faszinierenden Menschen, Kühen, Verkaufsständen von Memorabilien und Kitsch, Bananen und Kokosnüssen. Zwei Beerdigungen ziehen singend an uns vorüber, die Leichen schütteln beständig mit dem Kopf (was an sich ja in Indien „Ja“ bedeutet) und scheinen ihre Zustimmung für diesen letzten Dauerlauf ihres Lebens zu geben, bevor sie am Fluss den Flammen übergeben werden.
Vor dem Tempel hocken unzählige Bettler, unaufdringlich, Touristen aus dem Ausland kommen hier kaum vor, die Atmosphäre ist entspannt und niemand belästigt uns, die wir nach immer mehr exotischen Motiven heischend den Tempel halbumrunden. Rama und Sita belächeln uns ebenso wie Priester mit ihren Brahmanenschnüren, Fahrradrikschas und Tuktuks buhlen um Kunden, da kommt keine Langeweile auf.
Die Landschaft Odishas ist wunderschön, endlose Reisfelder, Kokospalmen, Betelblattgärten und reichlich Flüsse und Seen, alles für indische Verhältnisse ungewöhnlich gepflegt, bunte Kleinststädte und Fischersiedlungen wechseln ab mit Waldstücken und Sanddünen. An der Spitze einer in den Bengalischen Golf hinausragenden Halbinsel liegt das andere Ziel des Tages, der Wundertempel des Sonnengottes Surya, die Ecke der Sonne, Konark. Weltkulturerbe und Erotischer Göttersalon, Palast des Sonnengottes und grandiose Ergänzung uu Kajuraho und den Weltkulturerbestätten Südindiens.
Allein die Eingangshalle wäre die Reise hierher wert gewesen, ihre Säulen, endlosen Figuren und Reliefs sind pure Freude. In tiefem Gold liegen die Mauern vor uns, die nachmittagssonne bringt die Figuren zum Leuchten, fast möchte man meinen, die Frauen sind zum Aufbruch bereit, warten tatsächlich auf ihre Liebhaber und keinerlei Scheu ist ihnen zu eigen.
Der gesamte Tempel stellt den Wagen des Sonnengottes Surya dar, wie er von sieben Pferden gezogen wird. So zieht er, dem Helios gleich, täglich seine Bahnen. Leider sind die Pferde von Konark bis auf Eines nicht mehr erhalten, dafür aber sind 24 Räder des mächtigen Sonnengefährts vorhanden, welche in ihren Schmuckdetails in ganz Indien unübertroffen sind.
Dass der Haupttempelturm fehlt, fällt kaum auf bei der Masse der dem Turm vorgebauten Tanzhalle, welche heute die Hauptattraktion des Tempels darstellt. Die erotischen Darstellungen zwischen den gewaltigen Rädern können mit Kajuraho durchaus mithalten, endlose Varianten der Liebesstellungen begleiten den aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommenden Besucher. Graziös öffnet eine Liebesdienerin ihre Pforte, gekonnt bearbeiten geschickte Frauenhände die nach Befriedigung lechzenden Luststäbe der männlichen Halbgötter, Alt und Jung scheinen sich gut zu verstehen, der Fruchtbarkeitskult des Tempels wird überall deutlich.
Surya, aus einem grünen Stein geschaffen, hebt sich deutlich von den anderen, aus eisenhaltigem Sandstein gemeißelten Figuren ab. Größer, mit unglaublich schönen Gesichtsausdrücken, scheint er gar nicht teilzuhaben an all dem Geschehen um ihn herum, ein neutraler Lichtbringer ohne sichtbaren Bezug auf die um ihn her geschehenen Ereignisse. Die Sonnenuntergangsseite zeigt ihn auf einem wunderbaren Pferd, eine ungewöhnliche Darstellung, welche ich sonst aus ganz Indien nicht kenne.
Der Tempel wurde vermutlich als Siegesmonument von König Narashimadev I errichtet, um den knappen Sieg über die muslimischen Truppen des Tughral Tukhan Khan zu feiern. Der König erlebt die Fertigstellung seines Monumentes nicht mehr, als er 1264 starb, gab man es auf, den Tempelbau fortzuführen. Unfertige Reliefs an der Tanzhalle sind zeuge dafür und beweisen, dass alle Reliefs in Situ ausgeführt wurden. Ein Wunder der Steinmetzkunst, eines der großen Monumente Indiens, ein großartiger Auftakt unserer ungewöhnlichen Reise durch Indiens Nord-Osten.